Führungspositionen in Wirtschaft und Politik sollten zumindest in der Theorie von Personen besetzt werden, die über außergewöhnliche Qualifikationen, höchste Professionalität und eine unabhängige Entscheidungsfähigkeit verfügen. Doch in der Realität werden diese Ideale oft durch Inkompetenz, persönliche Netzwerke, politische Loyalitäten und wirtschaftliche Interessen geschmälert. Daher haben wir gemeinsam mit dem internationalen Führungskräfte-Netzwerk von BOARD SEARCH unter die Lupe genommen, welche Qualifikationen es an der Spitze braucht, wie mit Interessenskonflikten umgegangen werden sollte und welche objektiven Kriterien helfen können, die Ansprüche näher an die Wirklichkeit zu bringen.
Für ein Negativ-Beispiel aus der Praxis muss man nicht lange suchen: Die internationale Insolvenz der Signa ist ein Mahnmal aus der jüngsten Geschichte, das die Kluft zwischen dem Anspruch auf Professionalität & Unabhängigkeit und der Wirklichkeit verdeutlicht. Einer Wirklichkeit, in der Geschäftspraktiken durch private Netzwerke, persönliche Bereicherung und mangelnde finanzielle Sorgfalt korrumpiert werden und zu einem massiven Unternehmensversagen führen.
Anstand und Unabhängigkeit im Fokus
Die Signa Holding musste – bewusst als GmbH konstruiert – keinen Aufsichtsrat einsetzen, René Benko installierte jedoch einen Beirat als beratendes Gremium. Dass Beraterstäbe dieser Art eine wichtige Rolle für den Unternehmenserfolg spielen, steht für die 210 befragten Mitglieder des BOARD SEARCH Führungskräfte-Netzwerks außer Frage. 85% weisen ihnen eine hohe Wichtigkeit zu. Dabei ist für die Business-Insider*innen auch klar, dass die Wirkkraft der Beratenden mit ihrer Unabhängigkeit (78%) steht und fällt. Nur unabhängige Mitglieder können objektiv entscheiden und das Management effektiv überwachen und zur Rechenschaft ziehen. Als weitere Kernkompetenzen eines Beratergremiums werden Integrität (75%), Rückgrat (65%) und hohes Verantwortungsbewusstsein (64%) identifiziert. Fachlicher Kompetenz (55%) wird im Vergleich zur ethischen Eignung dagegen eine deutlich geringere Rolle zugewiesen.
„Einer von uns“
Die Unabhängigkeit beginnt dabei bereits bei der Bestellung. „Eines der Hauptmotive bei der Auswahl von Beiräten oder Aufsichtsräten ist das ‚Hans-sucht-Hänschen-Prinzip‘. Man sucht Seinesgleichen“, analysiert Dr. Josef Fritz, Geschäftsführender Gesellschafter der BOARD SEARCH GmbH. „Durch strukturierte Prozesse und Mechanismen können Unternehmen hingegen sicherstellen, dass die Auswahl von Gremiumsmitgliedern transparent, sachgerecht und im besten Interesse des Unternehmens erfolgt.“ Dazu braucht es neben einem klaren und nachvollziehbaren Set an Kriterien und Anforderungen (69%) auch eine regelmäßige Überprüfung der Board-Zusammensetzung und Identifikation von Kompetenzlücken (74%). Die BOARD SEARCH Experts verweisen in diesem Zusammenhang auch auf die gezielte Förderung der Vielfalt (51%) – nicht nur hinsichtlich Geschlecht und Alter, sondern auch in Bezug auf Internationalität, Herkunft und Know-How.
Die Umfrageergebnisse machen aber auch deutlich, dass hier noch eine große Kluft zwischen Theorie und Praxis besteht. Systematische Auswahlprozesse scheinen nur in den wenigsten Betrieben bereits umgesetzt zu sein. Lediglich ein Viertel der befragten Top-Führungskräfte berichtet zum Beispiel, dass es in ihrem Unternehmen ein klar festgelegtes Anforderungsprofil für Aufsichtsrats- oder Beiratsmitglieder gibt (24%). Immerhin bei knapp einem Drittel wird die Board-Zusammensetzung regelmäßig überprüft (31%). Eine transparente Kommunikation der Kandidatenauswahl findet in den seltensten Fällen statt (18%).
Prominente als Aufsichtsratsmitglieder kommen bei den Business-Insidern übrigens nicht sehr gut an. Nur 4% befürworten VIP-Beiräte, während 55% diese klar ablehnen. Die restlichen 41% können Ex-Politiker*innen und Co. im Beratergremium zumindest teilweise etwas Positives abgewinnen. Einig ist man sich, dass die Qualifikationen für Aufsichtsratsmitglieder strenger geregelt werden sollten. Aktuell sind die einzigen Anforderungen Volljährigkeit und Unbescholtenheit. 80% der Board-Experts wünschen sich hier klare Nachschärfungen.
Politik zwischen Kompetenzdefizit und Interessenskonflikt
Ähnlich wie das Top-Management in Unternehmen müssen auch Politikerinnen und Politiker Führungsqualitäten zeigen. Als wichtigste Kompetenz wird dabei von den befragten Experts ein hohes Verantwortungsbewusstsein angesehen (91%). Das fachliche Know-How erachten nur rund 4 von 10 als sehr wichtig für die Ausübung der Profession als Volksvertretende.
Zum Vergleich: In der Gesamtbevölkerung wird der fachlichen Kompetenz deutlich mehr Wichtigkeit zugesprochen. Von 1.000 befragten Österreicherinnen und Österreichern im Alter von 14 bis 75 Jahren erachten zwei Drittel das passende Know-how als sehr wichtig für Politiker*innen (67%). Mehr als jede*r Zweite hält darüber hinaus einen Befähigungsnachweis für unerlässlich (52%).
Doch Wunsch und Wirklichkeit klaffen eklatant auseinander. „Die Daten unserer Umfrage machen deutlich, dass die heimischen Politiker*innen den Ansprüchen aus der Bevölkerung nicht einmal ansatzweise gewachsen sind. Als stark wird lediglich das Netzwerk der Volksvertretenden angesehen. In Sachen Kompetenz, Persönlichkeit oder Verantwortungsbewusstsein können die Politiker*innen die Bevölkerung hingegen ganz und gar nicht überzeugen“, erläutert Thomas Schwabl, Geschäftsführer von Marketagent. Nur jeweils rund 2 von 10 Befragten aus der Gesamtbevölkerung sind der Ansicht, dass die heimischen Volksvertretenden ausreichende soziale und fachliche Kompetenzen bzw. den nötigen Anstand an den Tag legen.
Angesichts der zahlreichen internationalen und innenpolitischen Skandale der letzten Jahre überrascht es auch wenig, dass die Gefahr von Interessenskonflikten in der Politik ungefähr doppelt so hoch eingeschätzt wird wie in der Privatwirtschaft. Fast 9 von 10 Business-Insider*innen und drei Viertel der Befragten aus der Gesamtbevölkerung sehen eine sehr oder eher große Gefahr, dass bei den heimischen Volksvertretenden politische und persönliche Interessen kollidieren.
Interessenskonflikte in Unternehmen
Auch ihr eigenes Unternehmen erachten die befragten Führungspersönlichkeiten nicht als immun gegen derlei Einflüsse. Im Gegenteil, 6 von 10 Mitgliedern der BOARD SEARCH Community geben an, dass ihnen auch in ihrem Betrieb der eine oder andere Interessenskonflikt bekannt ist (61%).
Als sinnvollste Gegenmaßnahme wird eine Kultur der Offenheit (74%) erachtet. Eine regelmäßige Offenlegung von Interessen, einen Rückzug von der Teilnahme an der Entscheidungsfindung und eine transparente Berichterstattung heißen jeweils rund drei Viertel gut. Doch auch bei dieser Thematik hinkt die Praxis der Theorie noch weit hinterher. Nur rund ein Drittel der Business-Insider berichtet von entsprechend umgesetzten Maßnahmen im eigenen Unternehmen.
Dabei werden die Auswirkungen von Interessenskonflikten mehrheitlich als nachhaltig und schwerwiegend für das Unternehmen eingeschätzt (74%). Umso wichtiger ist es, einen proaktiven Ansatz zum Umgang mit solchen Kontroversen zu etablieren, um die Integrität der handelnden Personen zu wahren und das Vertrauen zu stärken. Das gilt für Unternehmen, und erst recht für die Politik.